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[Kein] Recht im Krieg?

Nicht intendierte Folgen der völkerrechtlichen Regelung bewaffneter Konflikte

AutorTanisha M. Fazal
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl424 Seiten
ISBN9783868549638
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Der Entstehung des modernen humanitären Völkerrechts liegt der Wunsch zugrunde, die schlimmsten Auswirkungen des Krieges zu begrenzen. Doch nicht selten konterkarieren unbeabsichtigte Folgen das Unterfangen. Anschaulich verbindet die Autorin historische Erzählung und quantitative Analyse, stellt so Veränderungen in der Praxis des humanitären Völkerrechts anhand von vergangenen und gegenwärtigen zwischenstaatlichen Kriegen und Bürgerkriegen dar und widerlegt Mythen über Krieg und Frieden, Staatlichkeit und Sezession. Sie plädiert dafür, die künftige Rechtssetzung des humanitären Völkerrechts auf eine breitere Wissensgrundlage über konkrete Praktiken zu stellen und angesichts historisch geänderter Konfliktarten - von der Seeblockade des 19. Jahrhunderts zum Cyberwar heutiger Provenienz - die Schutzfunktion dieses Rechts, vor allem auch für die Zivilbevölkerung, deutlich zu verbessern.

Tanisha M. Fazal ist Associate Professor für Politikwissenschaften an der University of Minnesota. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Souveränität, Völkerrecht, politische Gewalt sowie Medizin und bewaffnete Konflikte.

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Leseprobe

1


Die Ausweitung und Kodifizierung des Kriegsrechts


In diesem Kapitel umreiße ich die Entwicklung des humanitären Völkerrechts (HVR) seit der ersten schriftlichen Fixierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dieses Regelwerk hat sich quantitativ und qualitativ dramatisch verändert. Am Ende der Napoleonischen Kriege zu Anfang des 19. Jahrhunderts lagen zum Kriegsvölkerrecht keine multilateralen Abkommen vor. Das damalige Völkergewohnheitsrecht sah so aus, dass Kriegsgefangene regelmäßig erschossen wurden und brutale Übergriffe gegen die Zivilbevölkerungen in und außerhalb Westeuropas an der Tagesordnung waren.1 Dass das Kriegsrecht ohne schriftliche Fixierung nur auf Brauchtum beruhte, leuchtet ein für eine Welt, in der Staatsgrenzen und staatliche Souveränität noch selten festgelegt waren. Tatsächlich diente das Recht teilweise dazu, Banditen und Kriegsfürsten gegen legitime Herrscher abzugrenzen.2 Dagegen listet heutzutage das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in seiner Datenbank über siebzig Verträge und Übereinkünfte zum Kriegsrecht auf.3 Die meisten unterstützen seine Mission, Kriegsopfer zu schützen. Alle enthaltenen Bestimmungen zielen insofern auf Staaten ab, als das Augenmerk hauptsächlich der Regulierung zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikten anstatt von Bürgerkriegen gilt: Vertragsparteien sind ausschließlich Staaten.

In diesem historischen Überblick zum Kriegsvölkerrecht stelle ich den Entstehungsprozess des humanitären Völkerrechts in den Mittelpunkt. Nach einer Darstellung der Geschichte des Kriegsrechts in den Grundzügen analysiere ich, wie sich die Zusammensetzung der Parteien verändert hat, die an der Ausarbeitung des humanitären Völkerrechts beteiligt waren. Ich zeige auf, dass Militärs bei diesen Bemühungen eine immer geringere Rolle spielten. Danach behandle ich die Geschichte des humanitären Völkerrechts aus dem Blickwinkel bewaffneter nichtstaatlicher Akteure. Anhand einer Inhaltsanalyse zu bedeutenden Dokumenten des humanitären Völkerrechts zeige ich auf, dass dessen Urheber_innen mehr Sorge hatten, zu vermeiden, Rebellengruppen Legitimation zu verschaffen, als deren Verhalten in bello zu zügeln. Die veränderte Zusammensetzung der Parteien, die dieses Recht ausgearbeitet haben, erklärt in Kombination damit, dass das Verhalten von Rebellengruppen beständig unbeachtet blieb, warum – und welche – Akteure das sich verändernde HVR entweder zu umgehen versuchen oder sich um Einhaltung bemühen.

Eine kurze Geschichte des Kriegsrechts


Während des Großteils der Menschheitsgeschichte existierte das Kriegsrecht nur informell oder beruhte auf Übereinkünften von Fall zu Fall. So herrschte unter den alten Griechen zum Bespiel eine informelle Übereinkunft, nach der »Feindseligkeiten zuweilen unstatthaft sind: heilige Waffenruhen, insbesondere solche zur Feier der Olympischen Spiele ausgerufene, müssen eingehalten werden«. Zudem sollen Kriegsgefangene, anstatt sie hinzurichten, zum Freikauf angeboten werden.4 Cicero zeigte sich bekanntermaßen skeptisch, was die Gesetzeskraft in Zeiten des Krieges anging, erkannte aber dennoch die Notwendigkeit an, den Krieg gewissen Regularien zu unterwerfen. Er ermahnte die Römer dazu, Kriegsgefangene anständig zu behandeln und gegenüber Zivilbevölkerungen eine gewisse Gnade walten zu lassen.5 Entsprechend setzte sich Sunzi für einen humanen Umgang mit gefangenen Soldaten ein und vertrat den Standpunkt, dass ein geschickter Führer »Städte erobert, ohne sie zu belagern«, um der Zivilbevölkerung unnötiges Leid zu ersparen.6 Die Griechen und Römer der Antike ließen diese Beschränkungen allerdings nur für Personen gelten, die ihnen nahestanden. Andersgläubige und Barbaren genossen nicht die gleichen Rücksichten.7

Die ersten abendländischen Bemühungen, das Kriegsrecht schriftlich niederzulegen, erfolgten im Mittelalter durch Schriftsteller wie Thomas von Aquin und Vertreter der Kirche. Letztgenannte hatten ein vielfältiges und zuweilen widersprüchliches Interesse daran, den Krieg zu regulieren. Ein Anliegen bestand darin, christliche Werte der Gerechtigkeit und Menschlichkeit auch im Krieg zu praktizieren. Als ein weiteres sollte der Geltungsbereich dieser Werte begrenzt werden. Die Regeln des Kriegsrechts hatten klar für Konflikte zwischen und unter Christen zu gelten. Ebenso eindeutig blieben dagegen nichtchristliche Völker ausgenommen, deren »Barbarei« Gräueltaten rechtfertigten, oft unter dem Vorwand, dass Völker und Gebiete zivilisiert werden müssten.8 Ein dritter, höchst pragmatischer Grund für die Kirche, eine Rechtsordnung für den Krieg zu unterstützen, bestand darin, sich selbst einen Schutz zu sichern.9 Ihre Priester gehörten zu den ersten Gruppen, die diesen genossen. Auch war die Kirche als größte Grundbesitzerin in Europa ganz besonders daran interessiert, ein Regelwerk zu propagieren und zu verbreiten, das ihren Boden, ihre Kunstwerke und ihre Sakralgebäude schützte.

Die christliche Lehre zum ius in bello – Bestimmungen, die die im Krieg eingesetzten Mittel regelten – war in den mittelalterlichen Kodex der Ritterlichkeit eingebettet. Auch wenn der Ehrenkodex der Ritter ein Vorläufer des modernen humanitären Völkerrechts war und das Wort »Ritterlichkeit« heute positiv konnotiert ist, reichte er an gegenwärtige Standards von Humanität keineswegs heran.10 Wie Forscher_innen wie Helen Kinsella vertreten, zementierte der Ritterkodex bestehende Ungleichheiten wie die zwischen Rassen, Ständen und Geschlechtern und weitete sie sogar aus. Er zielte darauf ab, eine ganz bestimmte Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten, und regelte dabei hauptsächlich den Umgang mit Personen aus dem Ritterstand. Dabei galten die Regeln für einen menschlichen Umgang mit Kriegsgefangenen beispielsweise nicht für die Fußsoldaten, die häufig die Hauptlast der Kämpfe trugen.

Rechtsgelehrte wie Francisco de Vitoria (um 1483–1546), Hugo Grotius (1583–1645) und Emmer(ich) de Vattel (1714–1767) befassten sich mit dem Kriegsrecht, das sich auf Ad-hoc-Basis auf dem Schlachtfeld in Form einer Reihe von Regeln herausgebildet hatte, auf einer eher theoretischen und systematischen Ebene. Vitoria, ein spanischer Philosoph, vertrat im 16. Jahrhundert die Auffassung, dass Soldaten Zivilisten nur dann ins Visier nehmen dürften, wenn es militärischen Zielen diente, zum Beispiel um den Widerstand von Städten zu brechen oder die Moral der Soldaten zu stärken. Eine noch gemäßigtere Position vertraten der holländische Rechtsgelehrte Hugo Grotius im 17. Jahrhundert und der Schweizer Rechtsgelehrte Emmer de Vattel im 18. Jahrhundert, die beide dafür eintraten, dem Militär im Umgang mit Zivilbevölkerungen weitere Beschränkungen aufzuerlegen.

Während die Schriften dieser Rechtsgelehrten in gewissem Sinn die erstmalige Kodifizierung des Kriegsvölkerrechts darstellten, blieb die Anwendung der entsprechenden Regeln auf dem Schlachtfeld im Allgemeinen informell, mit der gelegentlichen Ausnahme bilateraler Übereinkünfte zwischen kriegführenden Parteien.11 Das Kriegsvölkerrecht beruhte weitgehend auf Gebräuchen, gekennzeichnet eher durch staatliche Praxis und damalige Regeln als durch positives Recht, das in internationale Abkommen eingebettet war.12 Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Landschaft des Völkerrechts allerdings dramatisch verändert. Wie Martti Koskenniemi vertritt, sei es der Aufstieg der Völkerrechtler als anerkannter Berufsstand gewesen, der zur Ausweitung des internationalen Rechts geführt habe. Entsprechende Regeln seien in zunehmendem Maße in multilateralen Abkommen festgeschrieben worden.13

Das erste Kriegsrecht, das in einem solchen Vertrag kodifiziert wurde, war die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856. Diese umfasst, kurz gesagt, lediglich vier Hauptteile:

1.Die Kaperei ist und bleibt abgeschafft.

2.Die neutrale Flagge schützt feindliche Ladungen, ausgenommen für die Kriegszeit verbotene Ware.

3.Neutrale Ladungen, ausgenommen für die Kriegszeit verbotene Ware (Kontrabande), dürfen auch unter feindlicher Flagge nicht beschlagnahmt werden.

4.Damit Blockaden rechtlich wirksam sind, müssen sie effizient durchgeführt, also von einer ausreichenden Streitmacht aufrechterhalten werden, um dem Feind den Zugang zur Küste zu versperren.14

Mit ihrem Minimalismus betonte die Deklaration insofern die Rechte der Kriegführenden, als diese neutrale Schiffe betreten und sie auf Kontrabande hin inspizieren durften. Die Rechte neutraler Staaten blieben nur so lange geschützt, als auf ihren Schiffen keine verbotenen Waren gefunden wurden. Auffallenderweise fehlt in dieser Erklärung eine Definition für derlei Schmuggelgut. Diese blieb...

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